Abschied Ernst Ritzi: Engagement «von unten» ist das Prinzip «Hoffnung»

Fast 30 Jahre lang war Ernst Ritzi Aktuar des Kirchenrats der Evangelischen Landeskirche Thurgau. Nun wird er pensioniert. Im Interview verrät er, worauf er rückblickend besonders stolz ist und wann er sich ein Lachen besser verkniffen hätte.

Nimmt am 31. August 2024 nach fast 30 Jahren bei der Evangelischen Landeskirche Thurgau seinen Helm. Bild: Cyrill Rüegger

Ernst Ritzi, was macht ein Kirchenratsaktuar?
Er ist Schaltstelle und Freuden- und Sorgentelefon von Landeskirche und Kirchgemeinden. In erster Linie aber Dienstleister für den Kirchenrat, die landeskirchliche Verwaltung, für die Fachstellen der Landeskirche und für die Kirchgemeinden und ihre Behörden und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ich bin oft um Rat gefragt worden und habe die rechtlichen und praktischen Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Für meine Arbeit habe ich sehr viel Dankbarkeit erfahren.

Sie haben diese Funktion fast 30 Jahre lang bekleidet. Weshalb hat es so gut gepasst?
Weil mir viel Vertrauen geschenkt worden ist und ich von Anfang an im Kirchenrat in den beiden Präsidenten Walter Vogel und Wilfried Bührer gute Lehrmeister und Vorgesetzte hatte, die mir sehr viel Eigenverantwortung zugetraut haben. Alle Mitarbeitenden auf der Kirchenratskanzlei haben einander unterstützt und sich dabei weniger auf ihr Pflichtenheft als auf die Arbeit bezogen, die wir zu erledigen haben, damit die Mitarbeitenden in den Kirchgemeinden und in der Landeskirche, Zeit und Freiheit haben, für die Menschen da zu sein, die von unserer Kirche und der Frohen Botschaft des Evangeliums Etwas erwarten.

Können Sie sich noch an die Anfangszeit erinnern?
Nicht so genau, aber an das Büro meines Amtsvorgängers «Herr» Dekan Hans Gossweiler, an die Zigarren, die er geraucht hat und dass sich ein paar «alte Herren» daran gestört haben, dass ich bei meiner Inpflichtnahme im Synodegottesdienst keine Krawatte getragen habe… Ja, es waren – zumindest auf der Kirchenratskanzlei – noch Reste einer Zeit vorhanden, in der die Kirche noch «pfarrherrlich» auftrat. Doch schon damals war unsere Thurgauer Kirche sehr vielfältig. Kirchenrat Pfarrer Paul Rutishauser – er ist noch heute für sein Engagement gegen das Apartheit-Regime in Südafrika berühmt – hatte nichts dagegen, dass ich keine Krawatte trug… Auch Walter Vogel, Kirchenratspräsident und Fraktionschef der Freisinnigen im Thurgauer Grossen Rat, konnte gut damit leben, dass ein Journalist und Kantonsrat der Grünen sein wichtigster Mitarbeiter werden sollte.

Auf was sind Sie rückblickend besonders stolz?
Ich habe mich immer als Mithelfer verstanden und konnte bei der Umsetzung von Ideen Impulse und Aspekte einbringen. Ich selbst habe Kirche als Jugendlicher und junger Erwachsener als Ort erlebt, an dem ich mich einbringen konnte. Mein Konfirmationspfarrer und die Menschen, die in den 1970er- und 80er-Jahren die Geschicke meiner Heimatkirchgemeinde Neukirch an der Thur geleitet haben, haben mir sehr viel zugetraut. Ich habe viel gelebten christlichen Glauben und gelebte Nächstenliebe mitbekommen. In der Kirche und in der Politik haben mich immer die Menschen am meisten beeindruckt, die für ihre Überzeugungen eingestanden sind, und es hat mich – auch über mich selber – beschämt, wenn Menschen in wichtigen Momenten oder bei wegweisenden Entscheidungen geschwiegen haben, weil sie die Harmonie nicht stören wollten oder an ihre Karriere gedacht haben. Im Rückblick auf fast 30 Jahre bin ich stolz darauf, dass unsere Landeskirche und unser Kirchenrat es zugelassen haben, dass unsere Kirchgemeinden sich entwickeln durften, dass kirchliches Leben in ganz unterschiedlichen Farben möglich wurde und dass in unserer Kirche und in den Kirchgemeinden auch der persönliche Glaube der Menschen ein Thema ist. Es braucht sich niemand zu verstecken.

Gab es auch Pannen, auf die Sie heute schmunzelnd zurückblicken?
Ja, es gab ernsthafte Pannen, die für rote Köpfe gesorgt haben. Ich habe mich dafür entschuldigt und meistens hat die Zeit die Wunden geheilt. Weil ich ein Mensch bin, der kleine Missgeschicke eher locker und ruhig angeht, musste ich manchmal auch das Lachen verkneifen, weil ich wahrnahm, dass der oder die Betroffene das gar nicht lustig fand.

Zum Beispiel?
Als Aktuar des Kirchenrates war ich während all den Jahren für Einrichtung des Sitzungssaales für die Synode zuständig. Eines Sitzungstages fragte mich der Präsident der Synode – es ist nicht der derzeit amtierende – warum sein Sitzplatz auf dem Podium nicht – wie offenbar von ihm gewünscht – eine Stufe höher sei als die Sitzplätze der Büromitglieder und jene der Mitglieder des Kirchenrates. Er hat allen Ernstes darauf bestanden, dass sein Sitz erhöht wurde. Dass ich ob seines ultimativen Wunsches lachte, lag gar nicht drin. Ich nehme an, dass er heute – sollte er das lesen – darüber lachen oder zumindest schmunzeln kann.

Gibt es weitere Anekdoten, die Ihnen in Erinnerung bleiben?
Es war am 31. Oktober 2017 am Festgottesdienst 500 Jahre Reformation mit dem damaligen Kirchenbundspräsidenten Pfarrer Dr. Gottfried Locher in der evangelischen Kirche in Weinfelden: Ich war dort als Gottesdienstbesucher und begrüsste viele mir bekannte Gesichter, als ich einem festlich gekleideten Herrn (mit Krawatte) die Hand schüttelte und ihn – weil er mir nicht bekannt war – fragte, wo er denn Pfarrer sei. Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, erklärte mir der Angesprochene, sein Name sei Markus Schaltegger und er sei der Mesmer der Kirchgemeinde Amriswil-Sommeri – merke: nicht nur Pfarrpersonen auch Mesmerinnen und Mesmer gehören unverzichtbar zu unserer Kirche.

Sie haben sich über die Jahre viel Wissen angeeignet. Wie stellen Sie sicher, dass dieses nun nicht verloren geht?
Mein Nachfolger Bernhard Rieder und die bewährten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der Kirchenratskanzlei verfügen über die nötige Fach- und Sachkompetenz, um sich in die Aufgaben einzuarbeiten, die ich bisher erfüllt habe. Zudem haben unsere Fachstellen damit begonnen FAQ’s zu erstellen, die helfen die häufigsten Fragen selbst zu beantworten. Sie sind auf unserer neuen Webseite zu finden. Was bei der Beratung und Unterstützung der Kirchgemeinden von mir bisher relativ unsystematisch geleistet wurde, soll nach dem Willen des Kirchenrates nun eine Struktur erhalten. Die Landeskirche will die Kirchgemeinden künftig in den Bereichen Recht, Personal, Finanzen, Liegenschaften, Bauvorhaben, IT, Organisationsentwicklung und Konfliktmanagement mit System unterstützen und begleiten und – wo nötig – auch eine weitergehende Fachunterstützung vermitteln. Den Nutzen eines strukturierten Beratungs- und Begleitungsnetzwerks habe ich als Präsident der Primarschule Sulgen erlebt. Hier kann die Kirche von der Schule lernen. Es ist wichtig, dass unsere Behörden in den Kirchgemeinden ihre Aufgaben wahrnehmen können und dass sie sich dafür das nötige Rüstzeug erwerben können.

Sie haben sich neben dem Beruf auch politisch und in der Schulbehörde engagiert: Woher kommt dieser Antrieb für das gesellschaftliche Engagement?
Ich habe als junger Mensch erlebt, dass wir in unserer Gesellschaft die Möglichkeit haben, unser Zusammenleben von unten zu gestalten. Jeder und jede von uns kann einen Beitrag leisten, und es macht einen Unterschied und erst noch Spass, auch wenn man nicht immer eine Mehrheit für die eigenen Ideen und Pläne gewinnen kann. Für mich ist mein Engagement «von unten» das Prinzip «Hoffnung», bei all den grossen Weltfragen, bei denen wir scheinbar machtlos sind.

Mit welchem Plan starten Sie nun in den Ruhestand?
Ich habe keinen Plan, aber ich möchte mich nützlich machen für Dinge, die uns eine Hoffnung geben. Vorerst macht meine Frau für mich jeden Tag eine Jobliste und ich gehe mit meinem Schwiegervater auf eine Velotour nach Deutschland. Und dann, ja dann… es wird sich etwas finden. Notabene freue ich mich, weiterhin in der Redaktionskommission des Kirchenboten mitzuwirken.