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Damit die Unsicherheit nicht bestimmt

Wie die Lebensqualität für Menschen mit Demenz und ihre Bezugspersonen bis zuletzt erhalten und gefördert werden kann, war das zentrale Anliegen der interdisziplinären Fachtagung in der Kartause Ittingen. Laien und Fachpersonen kamen ins Gespräch. Den Impuls gaben die beiden Landeskirchen. Sie sind Mitträger des neuen Ausbildungsangebots für Freiwillige im Besuchsdienst.

Eine Besonderheit der rasch ausgebuchten Demenz-Fachtagung „Vertraut und fremd zugleich“ vom 25. Februar in der Kartause Ittingen war, dass sie Laien und Fachpersonen gleichermassen ansprach. „Demenz ist eine Erkrankung, bei der die Medizin an ihre Grenzen stösst. Unbestritten ist die Notwendigkeit einer guten Zusammenarbeit aller Beteiligten, um die Lebensqualität von Betroffenen zu erhöhen und die Angehörigen zu entlasten.“, betonte die Frauenfelder Ärztin Christine Luginbühl. Das Grusswort der Thurgauer Regierung übermittelte Lisbeth Soppelsa, Leiterin der Koordinationsstelle Aufsicht und Alter im Amt für Gesundheit. Das neue Geriatrie- und Demenzkonzept, das der Thurgauer Regierungsrat erarbeiten liess, geht jetzt in die Umsetzung, orientierte Soppelsa. Durch höhere Lebenserwartung nimmt die Zahl von Menschen mit Demenzerkrankungen zu. Eine Herausforderung nicht nur für Politik und Volkswirtschaft, sondern für die ganze Gesellschaft.

Überwältigendes Interesse
Die beiden Thurgauer Landeskirchen stellen sich ihrer gesellschaftlichen Mitverantwortung. Dies auch aufgrund der Verunsicherung und Hilflosigkeit, die eine Demenzkrankheit bei Betroffenen, Angehörigen und Freiwilligen-Teams wie Besuchsdiensten auslösen. Im Verbund mit 16 Organisationen aus der Ostschweiz, die sich in den Bereichen Medizin, Geriatrie, Pflege, Palliativ Care, Betreuung, Ausbildung und Freiwilligeneinsatz engagieren, organisierte die Kirche die Demenztagung. Fachleute aus Medizin, Pflege, Betreuung und Laien erhielten Einblick in die verschiedenen Fach-Kompetenzen. „Mir haben die Ausführungen sehr geholfen, meine Gedanken zu ordnen und die nächsten Schritte anzugehen“, meinte eine Teilnehmerin aus Riedt. Sie bedauert zwar, nicht an den Workshops teilnehmen zu können, ist aber froh, wenigstens von den Fachreferaten profitiert zu haben. Ihr ging es wie 40 anderen auf der Warteliste, die statt einer Absage die Möglichkeit erhielten, wenigstens die Referate zusammen mit den 200 Angemeldeten zu verfolgen.


Tränen als Anfang der Therapie
PD Dr. med.Bernd Ibach, Chefarzt ambulante Alterspsychiatrie und Psychotherapie, Clienia Psychiatriezentrum Frauenfeld, orientierte über Ursachen, Verlauf und Therapie von verschiedenen rückbildungsfähigen und bleibenden Demenzerkrankungen. Eine klare frühzeitige Diagnose erleichtere es allen Beteiligten, besser mit der Situation umzugehen und negative Begleitsymptome einer Demenzerkrankung wie Angst und Depression abzufedern. Eine Auffassung, die auch Dr. med. Irene Bopp-Kistler, leitende Ärztin ambulante Dienste Memory-Klinik Stadtspital Waid in Zürich, teilt: „Das Diagnosegespräch ist der erste therapeutische Schritt!“, betonte sie. Was Menschen in den Suizid treibe, sei nicht die Diagnose, sondern die Verunsicherung, wenn sie sich nicht ernst genommen wissen und spüren, dass über sie geredet wird. Oft fühlen sie sich gemobbt.“ Weil eine Demenz-Krankheiten zur Beziehungsänderung führt, bindet Bopp-Kistler immer die Partner und Angehörigen mit ein. Dabei geht es um Abschied, Liebe, Wut und Trauer. Und vor allem ums Leben. Um rechtzeitig Abschied nehmen zu können, braucht es Unterstützung. Angehörige von Alzheimerpatienten berichten von einem langen Abschied auf Raten. Palliativbetreuung darf nicht mit Sterbebetreuung verwechselt werden. Palliativbetreuung ist die Begleitung in der letzten Lebensphase mit dem Ziel, die Lebensqualität bis zuletzt zu erhalten. Wie wertvoll und hilfreich dabei das „Gestimmt-Sein“ mit Musik sein kann, demonstrierte Musiktherapeutin Silvia Abegg von der Alterstagesklinik Weinfelden auf eindrückliche Weise.


Viel mehr Leben drin, als wir denken
Ethische Aspekte beleuchtete Dr. phil. Andreas Kruse, Direktor des gerontoligischen Instituts Heidelberg. Er ging auf die Lebensqualität und Menschenwürde von Menschen ein, die ihren letzten Lebensabschnitt nicht mehr selbst bestimmen und mitgestalten können. Weit mehr als in der Palliativpflege im Sterbehospiz, konfrontiere die Verletzlichkeit der Menschenwürde in der Palliativbetreuung von Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz. „Wir verletzen ihre Würde, wenn wir die Lebensqualität nur von aussen betrachten und auf die willentliche Gestaltungsfreiheit reduzieren.“ Das werthaltige Fühlen sei noch sehr lange lebensfähig und nicht an rationales Erfassen gebunden. „Demenzkranke können bis zuletzt die Stimmung um sie herum aufnehmen. Es ist noch viel mehr Leben drin, als wir denken, schwingen Sie sich deshalb in die Welt ihrer Wahrnehmung ein.“, plädierte Kruse für einen tiefgreifenden Perspektivenwechsel in der Kommunikation. Auch die spirituelle Dimension im gemeinsamen Gebet vermittle ein tiefes Gefühl des Getragenseins.
12 Workshops boten den 200 Teilnehmenden die Möglichkeit ihren persönlichen Interessenschwerpunkt zu vertiefen. So wollte Brigitte Seger aus Tägerwilen, als Gemeinderätin verantwortlich für das Ressort Gesundheit und Soziales, im Workshop zur demenzfreundlichen Gemeinde wissen, was in diesem Bereich überhaupt möglich ist.
Andere Workshop-Themen befassten sich zum Beispiel mit gelingender Kommunikation, wie man sich in die Lebenswelt von Menschen mit Demenz hineinversetzen kann, Betreuung in der Hausarztpraxis bis zum Auftrag der Erwachsenenschutzbehörde.


Neues Schulungsangebot für Freiwillige
Vorgestellt wurde ein neues Ausbildungsangebot „Menschen mit Demenz begleiten“ das speziell auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Freiwilligen zugeschnitten ist und am 28. August beginnt. Infos und Anmeldung www.evang-tg/agenda


Brunhilde Bergmann

Dr. med. Irene Bopp-Kistler plädiert für frühzeitige Abklärung: „Bevor die Diagnose gestellt wird, passiert unglaublich viel, aber es hat keinen Namen und verunsichert zutiefst.“

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