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Demenz: Lebensform mit verändertem Erfahrungsraum

Unter dem Titel «Sorgende Gemeinschaft sein – Demenz geht uns alle an!» fand am 24. Februar in der Kartause Ittingen die 5. Interdisziplinäre Fachtagung in Palliative und Dementia Care statt. Drei Referate am Vormittag beleuchteten das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven.

Für die, die sich im Beruf und Privatleben handfest einsetzten, sei dies ein Tag der Ermutigung und des Austauschs. Mit diesen Worten begrüsste Christine Luginbühl vom 17-köpfigen Organisationskomitee die rund 250 Teilnehmenden der Fachtagung. Während am Vormittag die Referate das Thema Demenz aus medizinischer und betreuerischer, philosophisch-ethischer und soziologisch-rechtlicher Sicht beleuchteten, konnte bei den praxisbezogenen Workshops am Nachmittag das Wissen noch vertieft werden. Die interprofessionell ausgerichtete Fortbildung für Fachleute und Freiwillige, welche in der Begleitung und Betreuung von demenzbetroffenen, von schwerkranken und sterbenden Menschen tätig sind, findet seit 2015 in einem zweijährigen Turnus im Rahmen der Ittinger Tagung statt.

Demenz bei jüngeren Menschen
«Demenz betrifft nicht nur die Betroffenen und ihre nächsten Angehörigen», sagte Pia Arnold vom Amt für Gesundheit Thurgau in ihrem Grusswort, «sondern uns alle.» Und Conny David-Widmer, Geschäftsführerin von Benevol Thurgau, zeigte sich dankbar, dass dieses wichtige Thema mit dieser Tagung Sichtbarkeit erhält. Die erste Referentin, Dr. med. Ulrike Darsow, war beeindruckt, wie viele Interessierte zusammengefunden hatten. Als Internistin mit dem Fachgebiet Geriatrie sowie leitende Ärztin der Memory Clinic am Spital Affoltern, arbeitet sie im kleinen Team an der Front. In ihrem Vortrag «Demenz bei jüngeren Menschen: Gibt es einen guten Weg?» erklärte sie die besonderen Herausforderungen junger Demenzerkrankter. Die Diagnose sei schwierig zu stellen, da die Symptome denen eines Burnouts ähnelten. «Da die Hirnleistung im Berufsleben eine andere ist, als jene im Alltag, fallen die Defizite bei der Arbeit häufig als erstes auf», erläuterte Darsow. Die Kinder der Betroffenen, oft noch sehr jung, würden in ihrem Sozialleben häufig eingeschränkt. Auch der Rollenkonflikt in der Beziehung ist meist fordernder als bei älteren Paaren. Selbsthilfegruppen, auf jüngere Menschen ausgerichtete Therapien sowie eine bessere Vertretung der Betroffenen nannte die Ärztin als hilfreiche Massnahmen.

Nichts verloren, nur zugeschüttet
Prof. Dr. med. Giovanni Maio lehrt an der Universität Freiburg Medizinethik. In seinem Beitrag «Demenz – oder die durch Beziehung gestiftete Identität» betonte er anfangs, dass er mit dem Begriff «Demenz» nicht einverstanden sei: «Damit insinuieren wir, dass etwas verloren gegangen ist. Dabei ist nichts verloren, sondern nur zugeschüttet.» Die Vergangenheit dieser Menschen sei nicht weg, sondern nur noch schwer zugänglich. «Sie fühlen sich unverstanden und werden sich selbst fremd. Es ist verständlich, dass sie mit Tränen und Aggression reagieren», sagte Maio. Wir hätten gesamtgesellschaftlich die Aufgabe, diesen Menschen zu ermöglichen, sich selbst erfahren zu können, indem wir ihnen Anknüpfungspunkte böten, die sie aus dem Unvertrauten holten. Dabei spiele die sinnliche Wahrnehmung und das assoziative Denken eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Politische Rahmenbedingungen nötig
Prof. Dr. habil. Thomas Klie, Sozialforscher in Freiburg, Rechtsanwalt und Autor, sorgte bei seinem Referat durch Szenen aus dem Kalender «Demensch», den er gemeinsam mit seinem Freund, dem Cartoonist Peter Gaymann, herausbringt, für den nötigen Humor. Menschen mit Demenz seien die grösste Gruppe der Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft. Dabei sieht er die Sorgefähigkeit einer Gesellschaft als Grundstein für die Demokratie: «Es gibt eine breite Bereitschaft, Angehörige zu pflegen.» Demenz müsse als eine Lebensform unter möglichen betrachtet werden. Ein gutes Leben sei unter bestimmten Umständen möglich, «aber die haben wir nicht überall», sagt Thomas Klie. Um sie zu gewährleisten, brauche es angemessene politische Rahmenbedingungen.
Am Nachmittag luden zwölf vielseitige Workshops zur Vertiefung ein, wie etwa «Wenn Klänge Erinnerungen wachhalten» oder «Demenzfreundliche Gemeinde – was braucht es dazu?». Ein sinnliches musikalisches Potpourri, ein farbiger Reigen und Regenbogen, prall gefüllt gleichermassen für Professionelle wie auch für Angehörige und Betroffene, rundete die 5. Ittinger Fachtagung ab. Die Tagung wird ideell, logistisch wie auch finanziell vom Kanton Thurgau, von den beiden Landeskirchen und von zahlreichen weiteren Organisationen unterstützt.

Judith Schuck

Dr. med. Ulrike Darsow, leitende Ärztin der Memory Clinic am Spital Affoltern, referierte über Demenz bei jüngeren Menschen.Bild: Judith Schuck

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