Newsdetail

Das Nachdenken geht weiter

Mit ethisch-theologischen Überlegungen zur organisierten Beihilfe zum Suizid befasste sich eine Gesamtdekanatstagung in der Kartause Ittingen. Dabei zeigte sich einmal mehr, wie vielschichtig das Thema „Beihilfe zum Suizid“ ist. Zur ars moriendi, der Kunst des Sterbens, gibt es verschiedene Haltungen, auch unter Theologinnen und Theologen.

Eingeladen hatte der Kirchenrat der evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau. Knapp 100 Pfarrpersonen und ordinierte Diakone und Diakoninnen folgten der Einladung zum Gesamtkapitel in die Kartause Ittingen. Wie akut die Thematik ist, erweist sich aus aktuellen Zeitungsberichten, wo zum Beispiel zwischen „eigentlichem“ und „uneigentlichem“ Suizid unterschieden wird.
Und in der Tat: Das Thema brennt den Seelsorgenden unter den Nägeln. Pfarrpersonen sind persönlich im Glauben aber auch beruflich in der Seelsorge vom Thema Freitod betroffen. „Ich erhoffe mir einen Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen und Kollegen.“ so Markus Aeschlimann, Spitalseelsorger in Frauenfeld.
Kirchenratspräsident Wilfried Bührer sieht da die Kirche zu einer profilierten Haltung aufgefordert. „Aber das, was wir sagen, soll nicht nur die Meinung einzelner Kirchenräte sein, sondern möglichst breit abgestützt.“ Und Kirchenrat Lukas Weinhold, Mitglied des Vorbereitungsteams, ergänzt: „Wer, wenn nicht das theologische Fachgremium, soll zur Frage des selbstbestimmten Lebensendes zu einer Antwort kommen?“

„sterben wollen sollen“
Wie schwierig eine solche Profilierung ist, zeigte sich in den drei unterschiedlichen Referaten, die nach den Kapitelversammlungen den Tag strukturierten.
Karin Nestor, Ärztin am Kantonsspital St. Gallen und Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, klärte als erste Referentin die Begrifflichkeiten. Sie unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, sowie der Beihilfe zum Suizid. Die aktive Sterbehilfe sei wiederum in zwei Kategorien einzuteilen. Die direkte aktive Sterbehilfe bezeichnet die Tötung auf oder ohne ausdrückliches Verlangen und ist in der Schweiz verboten. Die indirekte aktive Sterbehilfe meint die Anwendung einer Therapie, die zwar eine Lebensverkürzung in Kauf nimmt, aber ein anderes Ziel, wie z.B. die Schmerzlinderung, hat. Ein Abbruch oder Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen dagegen wird passive Sterbehilfe genannt und gehört zum ärztlichen Alltag. Organisationen wie Exit und Dignitas bieten Beihilfe zum Suizid, die nur dann nicht strafbar ist, wenn diese Hilfe nicht aus eigennützigen Motiven erfolgt. Nestor beobachtet einen Wunsch nach Kontrolle auch in der letzten Phase des Lebens, „dabei ist Unkontrollierbarkeit gerade der Kern des Sterbens.“ Die Ärztin betonte, wie wichtig die Haltung von Aussenstehenden gegenüber dem Suizidwunsch sei. Auch wenn man beim Suizid nicht helfen wolle, sei es entscheidend, sich nicht zurückzuziehen. Problematisch empfinde sie insbesondere den Alterssuizid. Man möchte sich nicht mehr zumuten, daraus könne der Druck „sterben wollen sollen“ entstehen.

Keine Neutralität
Diese Tendenz, das Leben hochbetagter Menschen als unwürdig abzuwerten, beobachtet auch Stefan Wohnlich, der als Vertreter der curaviva Thurgau Aspekte aus der Praxis in sein Referat einfliessen liess. „Das Alter wird als Hauptfaktor für die Steigerung der Gesundheitskosten angesehen.“ Die Alters- und Pflegeinstitutionen sind seit einem Bundesgerichtsurteil 2016 zur Auseinandersetzung mit der Frage nach der Suizidbeihilfe gezwungen. Die Heime stehen in der Pflicht zu deklarieren, ob bei ihnen ein assistierter Suizid möglich ist. „Es gibt keine Neutralität mehr.“ so Wohnlich, der das Wohn- und Pflegezentrum in Wängi leitet. In ca. 20 Prozent der Thurgauer Pflegheime sei die Beihilfe zur Selbsttötung möglich, so zum Beispiel im APZ Amriswil. Da ist natürlich auch die Seelsorge gefordert: Das in Amriswil erarbeitete Konzept sieht vor, dass eine Begleitung durch eine/n Seelsorger/in erfolgt mit dem Ziel, den Wunsch nach Suizid abzuschwächen. Wenn das nicht passiert, muss der oder die Suizidwillige eine Verzichtserklärung auf Seelsorge unterschreiben. Dies, da einige Betroffenen die göttliche Absolution forderten, die die Seelsorger nicht geben konnten.
Die Rückmeldungen aus der versammelten Pfarrschaft dazu waren nicht nur positiv. „Seelsorge wird instrumentalisiert.“ monierte eine Pfarrerin. Andere zeigten sich irritiert und fürchteten, dass die Kirche sich mit diesem Vorgehen selber ausschaltet.
Dann war das gemeinsame Mittagessen angesagt. Ein Pfarrer ist überzeugt: Diese gesellschaftliche Entwicklung zu mehr Autonomie sei von der Kirche nicht aufzuhalten. Interessant wäre es deshalb auch gewesen, einen Vertreter der anderen Sichtweise, z.B. ein Exitmitglied zu hören. „Ich hätte mir mehr Mut zur Kontroverse gewünscht.“ zeigte sich der Pfarrer enttäuscht.

Trennung von Theologie und Moral
Sein Wunsch war dem Theologen Frank Mathwig, Titularprofessor für Ethik und Beauftragter für Theologie und Ethik des SEK, Befehl. Er nahm den Auftrag, theologische Überlegungen zur kirchlichen Beteiligung an organisierter Suizidhilfe anzustellen, ernst und stellte einige provokante Thesen auf. „Das Leben ist kein zweiter Gott.“ sagte Mathwig dem Schweizer Theologen Karl Barth folgend. Nirgends in der Bibel würden Selbstmorde moralisch kommentiert. Wichtig sei es deshalb, Moral und Theologie zu trennen. „Selbstmord ist nicht aus moralischer, sondern aus theologischer Sicht zu hinterfragen.“ Es komme eben auf die Perspektive an: Versteht man das Leben als Leihgabe, als Geschenk Gottes oder als Eigentum? Je nach Sichtweise sei die Entscheidungsfreiheit kleiner oder grösser. Die Ablehnung des Suizids lasse sich allein aus der Geschöpflichkeit des Menschen ableiten. Wie gefährlich dieses theologische Denken „ohne moralisches Sicherheitsnetz“ ist, ist auch Mathwig klar. Wiederum Karl Barth (KD III,4) zitierend zwingt er die anwesenden Theologinnen und Theologen zu unangenehmen Gedanken: „Wir müssen damit rechnen, dass ein Suizid Gottes Wille sein kann, weil wir es nicht sicher wissen können.“ Gleichzeitig betone Barth aber, dass ein Suizid immer ein Grenzfall, niemals aber ein Regelfall ist. Was bleibe nun für die Kirche zu tun? „Sie darf keine Kriterien formulieren. Es gibt kein Patentrezept. Auf die Grenzfälle des Lebens gibt es kein eindeutiges und zweifelfreies Antworten und Handeln.“

Weiterdenken ist angesagt
Mit diesen Aussagen hatte Mathwig den Widerspruch vieler Pfarrpersonen auf sicher. Allerdings blieb die anschliessende Plenumsdiskussion zu fragmentarisch, als dass sich ein Konsens hätte bilden können. Da hätte man sich als Beobachterin eine vertiefte Auseinandersetzung, eventuell auch in Kleingruppen, gewünscht. Dass noch viel Diskussionsbedarf besteht, zeigte sich im Schlussvotum von Lukas Weinhold: „Es sind viele neue Fragen entstanden. Ich bin etwas ratlos, was ich jetzt mit nach Hause nehme.“ Und auch Wilfried Bührer zeigt sich ernüchtert in seiner Hoffnung, das Profil der Evangelischen Landeskirche schärfen zu können: „Jetzt haben wir noch mehr Auswahl.“


Judith Engeler

Die nächsten Schritte
Anlässlich der Zusammenkunft des Kirchenrates mit den Dekanen und der Dekanin wurde die Tagung ausgewertet und über das weitere Vorgehen gesprochen. Es soll eine Arbeitsgruppe gebildet werden. Allenfalls werden Kirchenrat und Dekanate nochmals zu einer Tagung einladen, an der mehr Raum für Gespräche und Konsenssuche gegeben wird. „Bei der nächsten Zusammenkunft von Kirchenrat und Dekanatsleitungen im Juni 2018 steht das Thema jedenfalls wieder auf der Traktandenliste.“, orientiert Kirchenratspräsident Wilfried Bührer.
brb.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben